Anleger stützen ihre Entscheidungen auf Benchmark-Daten, doch auch Benchmarks können Anlagechancen darstellen. Wie lassen sich Unternehmen identifizieren, deren Benchmarks Zukunftspotenzial haben?

Dieser Artikel beschäftigt sich mit folgenden Themen:

  • Welche Rolle Netzwerkeffekte bei Benchmarks spielen
  • Wie erfolgreiche Benchmarks in ein Ökosystem von Nutzern eingebunden sind
  • Welche Faktoren den Nutzen von Benchmarks beeinträchtigen oder diese irrelevant werden lassen können

In Sapiens: Eine kurze Geschichte der Menschheit thematisiert der Autor und Historiker Yuval Noah Harari die Kraft gemeinsamer Mythen als Grundlage für die Entstehung großer Netzwerke, in denen Menschen zusammenarbeiten

Städte, Länder und sogar Weltmächte werden von sozialen Normen getragen, die nicht auf dem Instinkt beruhen, sondern allein auf dem Glauben an gemeinsame Mythen. Dieser Glaube verleiht ihnen eine ungeheure Kraft. Erst wenn die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung aufhört, an sie zu glauben, würden sie verschwinden.

„US-Dollar, Menschenrechte und die Vereinigten Staaten von Amerika existieren in der gemeinsamen Vorstellung mehrerer Milliarden Menschen. Ein einzelner Mensch kann sie in ihrer Existenz nicht bedrohen“, so Harari.1

Auch Benchmarks, also eine Art Maßstab für Qualität oder Informationsgehalt, basieren auf solchen gemeinsamen Vorstellungen. Ein Produkt wird zur Benchmark für Qualität innerhalb einer Branche, und Unternehmen vergleichen ihre Ergebnisse mit denen ihrer Wettbewerber in Bezug auf eine bestimmte Benchmark.

An den Finanzmärkten spielen Benchmarks eine besonders wichtige Rolle. Investmentfonds richten sich an Benchmarks aus. Grund dafür ist die allgemeine Auffassung, dass diese eine präzise Referenzgröße für den Vergleich mit Wettbewerbern sind und die Märkte, in die der Fonds investiert, am besten abbilden. Für Anleger sind Benchmarks indessen noch aus einem anderen Grund interessant: Benchmark-Anbieter können auch ein attraktives Investment sein.

Benchmarks sind ein Geschäft mit überzeugendem wirtschaftlichen Profil

„Benchmarks als Geschäftsidee haben unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ein überzeugendes Profil“, erläutert Francois de Bruin, Global Equity Fund Manager bei Aviva Investors. „Sei sind kostengünstig in der „Herstellung“, häufig genügt eine Exceltabelle, und können dann immer wieder verkauft werden. Für die darauf bezogenen Vermögenswerte sind Benchmarks von zentraler Bedeutung, sodass aus den entsprechenden Verträgen ein konstanter Cashflow resultiert. Einmal als Branchenstandard etabliert, sind sie nur sehr schwer zu ersetzen. Sie haben extrem niedrige Wartungskosten und wachsen zusammen mit ihren Kunden.“

In diesem Beitrag nehmen wir verschiedene Arten von Benchmarks unter die Lupe. Wir beleuchten ihre Erstellung und ihre wirtschaftlichen Merkmale und zeigen auf, was ihre Vormachtstellung gefährden könnte.

Benchmarks und Netzwerkeffekte

Benchmarks lassen sich in zwei Kategorien unterteilen (siehe Abbildung 1):

1. Direkt / indirekt

Direkte Benchmarks werden als Norm, Standard oder Bezugsgröße entwickelt. Sie werden aktiv aufrechterhalten und vorab festgelegt. Beispiele sind Referenzindizes für einen Markt und Ratings. Indirekte Benchmarks sind besonders nützliche Produkte oder Dienstleistungen, die sich gewissermaßen als Nebeneffekt zu einem Standard entwickeln, wie Adobe Photoshop. Die Anwendung gilt als Benchmark für Bildbearbeitungssoftware. „Indirekt“ bezieht sich in diesem Fall darauf, dass die Geschäftstätigkeit des Unternehmens nicht primär im Benchmarking besteht. So ist Google in der Suchmaschinen-Branche und Adobe im Bereich kreatives Design tätig. Dennoch profitieren beide Unternehmen von immateriellen wirtschaftliche Eigenschaften und Effekten wie direkte Benchmark-Betreiber. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang vor allem Marketingvorteile, die sich daraus ergeben, dass ihr Produkt bei Kunden Best-in-Class-Status hat, was dem Unternehmen eine kostenlose Nachfragesteigerung beschert.

2. Infrastrukturbenchmark / Optimierungsbenchmark

Infrastrukturbenchmarks sind entscheidend dafür, wie eine Branche oder ein Produkt funktioniert. Ein Beispiel wären hier Preisdaten. Optimierungsbenchmarks stellen den Status quo infrage oder fördern einen höheren Standard. Ein gutes Beispiel hierfür sind Benchmarks von Nichtregierungsorganisationen wie die Benchmarks der World Benchmarking Alliance und der ChemScore von ChemSec.2,3 Damit soll ein Optimierungswettbewerb unter den Unternehmen gefördert werden.

Unabhängig von ihrer Erstellung oder Verwendung beruhen Benchmarks jedoch vor allem auf dem allgemeinen Vertrauen in ihre Qualität und ihren Nutzen. Etablierte Benchmarks sind also sowohl eine Folge als auch Nutznießer von „Netzwerkeffekten“ (siehe Supercharge me: The power of network effects). So nutzen Investoren beispielsweise MSCI-Indizes, weil sie in der Finanzbranche von einer großen Mehrheit der Marktteilnehmer verwendet und verstanden werden.

„Wenn jemand in einen globalen Aktienfonds investieren möchte und sich unser Fonds auf eine gut etablierte, allseits bekannte Benchmark wie den MSCI All Country World Index (ACWI) bezieht, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass wir unter den Suchergebnissen des Kunden oder seines Beraters erscheinen“, so Stuart Empson, Equity Investment Director bei Aviva Investors. „Würden wir stattdessen  eine individuell entwickelte Benchmark verwenden, würden wir uns vermutlich nicht unter den Suchergebnissen befinden, was sich für die Vermarktung unseres Fonds als Nachteil erweisen könnte.“

Eine Benchmark verdient den Namen erst, wenn sie allgemein etabliert ist. Dies wiederum verschafft ihr Relevanz und Zukunftspotenzial.4 Kritische Masse ist beim Aufbau eines Netzwerks unabdingbar, denn für eine Benchmark an sich braucht es nicht viel. Doch erst ein einflussreiches Netzwerk sorgt dafür, dass sie sich etabliert, und sichert ihren Fortbestand.

Darüber hinaus haben Betreiber großer Benchmarks in der Regel Zugang zu erheblichen Datenmengen. Die Daten aus ihren Netzwerken können sie häufig für neue Benchmarks nutzen, die für spezielle Anwendungsfälle, auch Marktnischen, entwickelt werden.

Für de Bruin ist der Versicherungsmakler AJ Gallagher mit Schwerpunkt auf regionalen Kunden aus der US-Versicherungsbranche ein gutes Beispiel. „In einer Kleinstadt, zum Beispiel in Iowa, gibt es meist keine Benchmark für einen angemessenen Preis der Versicherung für die fünf Fritteusen Ihres Burger-Imbisses. Da AJ Gallagher in diesen regionalen Städten jedoch mit mehreren Tausend Maklern vertreten ist, verfügt das Unternehmen über deren gesamten Datenbestand, um daraus so etwas wie eine Benchmark zu erstellen.“

Eine Benchmark muss sich innovativ weiterentwickeln, um sich am Markt zu behaupten

Wie auch bei anderen Netzwerkeffekten heißt der Schlüssel zum Erfolg Innovation. Eine Benchmark kann durch einen First Mover Advantage zum Goldstandard werden. Doch um diese Position dauerhaft zu behaupten, muss sich die Benchmark innovativ immer wieder weiterentwickeln. Wenn einem Unternehmen dies gelingt, sollte es in der Lage sein, die Konkurrenz auf Abstand zu halten. Damit geht dann auch erhebliche Preissetzungsmacht einher.

„Trotz des branchenweiten Preisdrucks konnte MSCI dank seiner Innovationskraft und der steigenden Relevanz seiner Indizes nicht nur seinen Umsatzsteigern, sondern auch höhere Preise durchsetzen“, so de Bruin. „Netzwerkeffekte haben bei Benchmarks einen Verstärkungseffekt, vor allem in Kombination mit Innovationen und Marktakzeptanz, was weitere Innovationen und eine noch breitere Akzeptanz nach sich zieht.“

Abbildung 1: Benchmark dynamics

Benchmark dynamics

Source: Aviva Investors, January 2023.

Benchmarks und Ökosysteme

Manche Benchmarks sind auf eine Verbesserung der Branchenpraxis ausgerichtet, andere sollen Geschäft bringen, wie beispielsweise die Preisdaten bei AJ Gallagher. Aus Investmentsicht am interessantesten sind jedoch Benchmarks, die sich verkaufen lassen, wie Indizes und Ratings. Diese Benchmarks sind asset-light, relevant und investierbar und haben damit ein überzeugendes wirtschaftliches Profil.

Aufgrund von Netzwerkeffekten gewinnt eine Benchmark an Relevanz, je mehr Menschen sie nutzen

„Sie werden einmal erstellt und dank der Netzwerkeffekte dann vielfach verkauft. Je mehr Menschen sie nutzen, desto mehr gewinnen sie an Relevanz“, erläutert de Bruin weiter. „Die Macht von Marken, wie S&P 500 oder MSCI, gibt den Betreibergesellschaften Preissetzungsmacht und sichert ihren Fortbestand.“

Um Markenmacht und Netzwerkeffekte langfristig zu sichern, müssen Benchmarks fest in einem Ökosystem von Nutzern verankert werden. Unser Fokus liegt daher auf Benchmark-Anbietern mit einer breit gefächerten Kundenbasis, denn diese Unternehmen dürften ihre Stärke und Resilienz auch in Zukunft bewahren.

MSCI stellt beispielsweise Pensionsfonds (die letztlich die Vermögenswerte in ihren Portfolios halten) ins Zentrum des Ökosystems seiner Aktien-Benchmarks. Pensionsfonds verlangen Benchmarks für ihre Vermögenswerte (entweder direkt oder über ihre Anlageberater). Um Transaktionen durchführen zu können, müssen Asset Manager diese Benchmarks übernehmen, ebenso wie das breitere Handelssystem (Börsen, Händler etc.) sowie Datenanbieter, Depotbanken und Berater. Jede dieser Gruppen nutzt die Benchmarks dann zu ihren eigenen Zwecken. Asset Manager brauchen Benchmarks zur Messung der Wertentwicklung börsengehandelter Fonds (ETFs), Banken für die Entwicklung von Derivaten, um nur einige Beispiele zu nennen. All dies trägt zur tieferen Verankerung der Benchmarks bei. (Bei Rentenmärkten stellt MSCI Versicherer in den Mittelpunkt, die Entwicklung im Ökosystem funktioniert jedoch im Prinzip nach demselben Muster.)

Ratingagenturen verdienen daran, die Bonität von Emittenten zu bewerten und Endnutzern Zugang zu ihren Research-Ergebnissen und Erkenntnissen zu gewähren

Auch bei Ratings sieht es ähnlich aus. Emittenten benötigen Benchmarks, um Anlegern eine Vorstellung von ihrer Bonität zu vermitteln und sich Kapital zu sichern. Anleger legen Ratings bei der Auswahl von Anleihen oder Krediten zugrunde und Risikomanager als Qualitätsmaßstab. Sogar in der Haushaltsplanung von Regierungen spielen Ratings eine Rolle. Dies führt dazu, dass ein ganzes Ökosystem um die Informationen der Ratingagenturen kreist, was diese aus Investmentsicht zu attraktiven Unternehmen macht.

„Ratingagenturen haben ein ganz ausgeklügeltes Geschäftsmodell“, so Carmen Altenkirch, Emerging Markets Sovereign Debt Analyst bei Aviva Investors. „Sie verdienen daran, die Bonität von Emittenten zu bewerten und Endnutzern Zugang zu ihren Research-Ergebnissen und Erkenntnissen zu gewähren.“

Risiken für Benchmarks

Trotz der starken Position von Benchmarks sollte man bei einem Investment in Benchmark-Betreiber einige Risiken bedenken. So können regulatorische Änderungen den Nutzen von Benchmarks untergraben.

Vor der Verabschiedung des Dodd-Frank Wall Street Reform Act und des Consumer Protection Act sicherte der Rechtsrahmen lange Zeit ein Oligopol der drei größten Ratingagenturen ab: S&P Global, Moody’s und Fitch Ratings. Sie waren damals in Europa und den USA die einzigen staatlich zugelassenen Ratingagenturen.  

Regulatorische Änderungen können den Nutzen von Benchmarks untergraben

Nach der Finanzkrise war für Investmentfonds nach US-Recht kein Rating eines staatlich anerkannten Unternehmens mehr erforderlich. Mehr Transparenz in der Ratingsvergabe sicherte den großen Ratingagenturen jedoch weiterhin das Vertrauen ihrer Kunden.5

„Nach der globalen Finanzkrise und der Einführung neuer Regelungen an den wichtigsten Märkten haben die Ratingagenturen ihre Prozesse wesentlich transparenter gemacht“, erläutert Altenkirch. „Fitch veröffentlicht nun zum Beispiel seine Modelle für Staatsanleihen und legt umfassend dar, wie sich die qualitative Beurteilung in den Ratings niederschlägt.“

Zudem haben Ratings in den aufsichtsrechtlichen Rahmenwerken Basel und Solvency II zur Verhinderung einer erneuten globalen Finanzkrise nun einen festen Platz bei der Festlegung der regulatorischen Eigenkapitalanforderungen. Folglich sind Ratingagenturen heute profitabler als vor der Finanzkrise 2007/2008.6,7

Es gelingt jedoch nicht allen Benchmark-Betreibern, sich an immer neue Gegebenheiten anzupassen, und auf lange Sicht könnten strukturelle Veränderungen dazu führen, dass Benchmarks an Nutzen für die Marktteilnehmer verlieren oder irrelevant werden. Ein Beispiel ist der Zusammenbruch der Währungsordnung des Bretton-Woods-Systems in den 1970er Jahren aufgrund der Kosten für den Vietnamkrieg, der Ölkrise und einer rasant steigenden Inflation. Auf diese unerwarteten Schocks war die Benchmark schlicht und einfach nicht vorbereitet.

Eine Orientierung an vergangenen Entwicklungen und Benchmark-Gewichtungen ist nicht zu empfehlen

So könnten auch vergangenheitsorientierte Aktienindizes in Zeiten des Klimawandels, der für viele Branchen eine Phase rasanten und disruptiven Umbruchs erwarten lässt, an Relevanz verlieren. Benchmark-Nutzer wie Anleger, die diese zur Risikoeinschätzung heranziehen, müssen darauf vertrauen können, dass die Ratings den sich ändernden Rahmenbedingungen Rechnung tragen.

Tayler zufolge ist mit „hoher Volatilität zu rechnen – nicht nur rein ökonomisch, sondern auch in der Unternehmenslandschaft. Anbieter von konkreten Lösungen werden sich behaupten können, während etablierte Unternehmen mit Umstellungsschwierigkeiten rasch Marktanteile verlieren und als Benchmark irrelevanter werden können“. „Eine Orientierung an vergangenen Entwicklungen und Benchmark-Gewichtungen ist nicht zu empfehlen.“

Zukunftspotenzial

Dennoch wird die Welt nicht ohne Benchmarks auskommen können. Daher dürfte diese Art struktureller Verschiebungen bestehenden Benchmark-Betreibern Chancen eröffnen, gleichzeitig jedoch auch ihre Geschäftsmodelle gefährden.

Neue Benchmarks müssen auf der Grundlage glaubwürdiger Prinzipien entwickelt werden

Neue Benchmarks müssen auf der Grundlage glaubwürdiger Prinzipien entwickelt werden, die sowohl von den Nutzern als auch vom breiten Ökosystem akzeptiert werden. Nur so kann sich eine Benchmark etablieren. Benchmark-Betreiber, die bei Kunden bereits heute großes Vertrauen genießen und Zugriff auf relevante Daten haben, dürften daher im Hinblick auf eine Welt im Wandel gut aufgestellt sein. 

Ein Ansatz, Benchmarks als Anlagethema aufzurollen, besteht darin, die Betreiber herauszufiltern, die bereits jetzt die Bedürfnisse einer breiten Nutzerbasis erfüllen und auch künftig in der Lage sein werden, ihr Angebot an die sich ändernden Rahmenbedingungen anzupassen. Unternehmen, die ihre Markenmacht für ihre Kunden nutzen können und innovative Lösungen für deren Anforderungen finden, dürften auf Erfolgskurs bleiben.

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