Eine ganze Reihe von Marktversagen haben die Schwachstellen der modernen Portfoliotheorie schonungslos aufgezeigt. Die Marktteilnehmer sind nicht bloß Zuschauer, sondern nehmen mit ihrem Handeln aktiv Einfluss auf die Märkte. Wenn man dies versteht, ist man möglichweise besser in der Lage, in Theorie und Praxis mit dem systematischem Risiko umzugehen.
Dieser Artikel beschäftigt sich mit folgenden Themen:
- Schwachstellen im modernen Finanzsystem und Risikomanagement
- Wie Marktteilnehmer den Gesamtmarkt beeinflussen können
- Neue Ansätze für systematische Risiken und Marktrisiken
- Wie sich Macro Stewardship in der Praxis auf Investments und die Märkte auswirkt
Kaum eine Aussage macht den Sinneswandel beim Investieren im Vergleich zu früher so deutlich wie die (heute) allgegenwärtigen Worte von Harry Markowitz: „You have to think about risk as well as return.“1
Diese trügerisch simple, aber dennoch geradezu revolutionäre Erkenntnis entzündete ein wahres Feuerwerk an Innovation in der Theorie und Praxis des Risikomanagements und legte das Fundament für die moderne Portfoliotheorie (MTP).
Betrachten wir das moderne Finanzwesen jedoch vor dem Hintergrund der gewaltigen systemischen Herausforderungen, vor denen wir gerade stehen, wird klar: Die Theorie hat fatalerweise etwas Entscheidendes übersehen.
Das Problem ist, dass im Finanzwesen die unbestrittene Auffassung vertreten wird, dass der Markt etwas ist, was man nicht beeinflussen kann.
William (Bill) Sharpe, einer der Hauptprotagonisten der MPT, betont jedoch, dass wir uns alle darauf verlassen, dass der Markt gut funktioniert. Darüber reflektierend, welche Auswirkungen seine Arbeit auf die Investmentbranche hatte, merkte Sharpe an, dass ein höheres Risiko zu einer höheren erwarteten Rendite führe, allerdings nicht jedes beliebige Risiko, sondern nur das Risiko, für das es eine Gegenleistung geben werde, wenn die Märkte gut funktionierten. Sharpe weist uns darauf hin, dass es sich dabei um ein Risiko handelt, das man nicht wegdiversifizieren könne.
Die nicht in Frage gestellte Auffassung, dass die Integrität2 des Marktes einen exogenen Faktor darstellt, auf den aktive oder passive Marktteilnehmer keinen Einfluss haben, hat die Investment- und Finanzbrache blind für jegliche konkreten und substanziellen Nachhaltigkeitskonzepte gemacht.
Das muss nicht so sein; wir können die Vergangenheit hinter uns lassen. Was wäre, wenn man einige der Kernannahmen im Finanzwesen neu aufstellen würde? Oliver Morriss – Macro Stewardship Analyst bei Aviva Investors – und seine Kollegen sind überzeugt, man könne die MPT trotz all ihrer Schwachstellen neu konzipieren.
Um der Sache jedoch wirklich auf den Grund zu gehen, müssen wir zunächst verstehen, wie wir an den aktuellen Punkt gekommen sind.
Systematisches Risiko vs. systemisches Risiko
Wenngleich die Begriffe oft gleichbedeutend verwendet werden, ist es wichtig, den Unterschied zwischen „systemischem“ und „systematischem“ Risiko zu verstehen. Sie bezeichnen unterschiedliche Bezugsrahmen aus unterschiedlichen Disziplinen (Regulatorik/Governance und Finanztheorie), die nicht dafür konzipiert oder gedacht waren, zusammenzupassen.
Als „systemisches Risiko“ wird das Risiko bezeichnet, dass ein gesamtes System zusammenbricht – nicht nur einzelne Teile davon. Im Finanzkontext bezeichnet der Begriff das Risiko, dass aufgrund der Verflechtungen im Finanzsystem eine Störung kaskadenartig auf den gesamten Finanzsektor übergreift und eine schwere wirtschaftliche Krise hervorruft.
Als „systematisches Risiko“ wird hingegen das systemimmanente Risiko bezeichnet, das für den gesamten Markt oder die gesamte Wirtschaft besteht. Dieses Risiko ist nicht diversifizierbar und kann daher nicht vermieden werden. Man kann jedoch Einfluss auf die das systematische Risiko treibenden Faktoren nehmen.
Beide Konzepte sind eindeutig miteinander verknüpft und überschneiden sich, was der Grund für die Verwirrung ist. Wir bemühen uns in diesem Artikel nach Kräften, diese Begriffe korrekt zu verwenden und nicht synonym zu behandeln!
Das einzige „Free Lunch“ beim Investieren
Markowitz verschaffte den Anlegern ihr einziges „Free Lunch“ – Diversifizierung. Im Zentrum seines Artikels Portfolio Selection, für den er den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften erhielt, steht eine einfache Regel: Ohne Risiko keine Belohnung.
Markowitz lehrt uns, dass man nicht alles auf eine Karte setzen, sondern das Risiko diversifizieren sollte! Er wartete aber auch mit einem neuen Konzept auf, indem er argumentierte, es müsse die „richtige“ Art der Diversifizierung sein. Es müsse vermieden werden, in Wertpapiere mit hoher Kovarianz untereinander zu investieren.
Diversifizierung mag zwar das beste Instrument zur Reduzierung des Risikos (gemessen als Varianz) sein, begrenzt jedoch tendenziell die Möglichkeit, höhere Renditen zu erzielen, wie sie mit stärker konzentrierten Positionen erzielt werden könnten.
Bill Sharpe, Schöpfer des Capital Asset Pricing Model (CAPM), baute auf dieser Erkenntnis auf und ging von der Grundannahme aus, dass alle Anleger ein möglichst „effizientes“ Portfolio anstreben. Auf der Grundlage einer Reihe weiterer positiver Annahmen wie etwa risikofreie Kreditaufnahme und -vergabe kam Sharpe zu dem Schluss, das optimale Portfolio entlang der Effizienzgrenze nach Markowitz müsse das Marktportfolio sein, das in etwa dem breiten US-Aktienindex S&P 500 entspricht.3
Mit dieser Theorie konnte Sharpe den Preis jedes einzelnen Vermögenswertes an den Kapitalmärkten berechnen. Seinem CAPM zufolge sei das einzige Risiko, für das Anleger vergütet werden, jenes, das sich nicht wegdiversifizieren lässt. Sharpe nannte dieses Risiko das „systematische Risiko“, das durch den Beta (β)-Faktor ausgedrückt wird. Beta ist ein Maß für die Kovarianz (oder Korrelation) eines Vermögenswertes mit dem Markt. Sharpe unterscheidet zwischen „systematischem Risiko“ und „unsystematischem Risiko“, d. h. dem Teil des Risikos einer Anlage, der nicht mit dem Markt korreliert ist.
Das Problem dabei: Sobald das unsystematische (oder idiosynkratische) Risiko wegdiversifiziert wurde, ist das systematische Risiko (oder Marktrisiko) für nicht weniger als 91,5 Prozent der Variabilität von Anlagerenditen verantwortlich.4
Das „Free Lunch“ verschlingen
Ein wesentliches Manko der MPT sind jedoch das kurzsichtige Risikoverständnis und die Annahme, alle Risiken seien mathematisch bestimmbar. In seiner Arbeit von 1921 mit dem Titel Risk, Uncertainty, and Profit unterschied der Ökonom Frank Knight von der University of Chicago zwischen Risiko und Unsicherheit. Ersteres war quantifizierbar, Letzteres nicht.
Wir riskieren, die Kunst des Investierens zu eben den Faustregeln und althergebrachten Grundsätzen zu degradieren, von denen uns die moderne Theorie eigentlich – wie verkündet – befreien sollte
Die unverhältnismäßige Fokussierung auf die Volatilität als Risikomaß und das anschließende übermäßige Vertrauen auf das Instrument der Diversifizierung führen dazu, dass eigentlich systemische Risiken als Unsicherheit eingestuft werden.
Jon Lukomnik, Mitautor des Buches Moving Beyond Modern Portfolio Theory: Investing That Matters von 2021 vertritt eine ähnliche Auffassung. Er schrieb: „Die vorherrschende Investmentorthodoxie kann mit systemischen Risiken schlicht nicht umgehen, was dazu geführt hat, dass sich Anleger auf die Manifestation des Risikos als Volatilität konzentrieren, jedoch nichts gegen das zugrunde liegende Risiko unternehmen.“
Bei der niemals endenden Suche nach immer ausgeklügelteren Möglichkeiten des Risikomanagements riskieren wir, die Kunst des Investierens zu eben jenen Faustregeln und althergebrachten Grundsätzen zu degradieren, von denen uns die moderne Theorie eigentlich – wie verkündet – befreien sollte. Die implizite Annahme von Exogenität und die Auffassung, dass ein gut funktionierender Markt eine Konstante darstellt, auf deren Grundlage Anleger mit Anlagen Ineffizienzen ausnutzen können, wird durch die Risiken, mit denen wir heute konfrontiert sind, völlig untergraben.
Risiken – und Renditen
Hinterfragt man das Konzept des Marktes als unveränderliches Gebilde, stellt sich als nächstes folgende Frage: „Wie könnten neue konzeptuelle Ansätze bei Risiko und Rendite oder Opportunität aussehen?“
An erster Stelle muss dabei die ESG-Integration stehen, d. h. die explizite und systematische Einbeziehung von ESG-Aspekten in die Investmentanalyse und Anlageentscheidungen.5 Die ESG-Integration passt zur EMH, da es dabei schlicht um die Berücksichtigung von für Vermögenswerte preisrelevante Informationen geht. Ordentlich umgesetzt, kann sie Anlegern helfen, sich ein stimmigeres Bild von Diversifizierung und Risiko zu machen.
Ein Nachteil ist, dass das moralische Argument für mehr Nachhaltigkeit, Korrektur von Marktversagen und Beseitigung negativer Externalitäten mit dem finanziellen Ziel kollidiert. Der Klimawandel und andere große Risiken brechen bereits über uns herein. Sie sind nicht länger ein Problem einer fernen Zukunft, sondern haben jetzt Auswirkungen auf das Leben der Menschen und auf Anlageportfolios.
Daher ist es entscheidend, sich jetzt mit den zugrunde liegenden Risikofaktoren und -quellen in einer Weise auseinanderzusetzen, die die Investmentorthodoxie nicht in Betracht zieht
Daher ist es entscheidend, sich jetzt mit den zugrunde liegenden Risikofaktoren und -quellen in einer Weise auseinanderzusetzen, die die Investmentorthodoxie nicht in Betracht zieht. Ein aktiver Dialog mit Portfoliounternehmen – wir nennen es Micro Stewardship – ist dabei ein wichtiger Aspekt: nachhaltiges Handeln fördern und so den Beitrag zu Risiken mindern, die das System, in dem die Unternehmen agieren, untergraben können.
Ein weiterer Ansatz, auf die den Risiken zugrunde liegenden Ursachen einzuwirken, ist Macro Stewardship: Einflussnahme auf das System selbst durch Zusammenarbeit und engen Austausch mit der Branche, Aufsichtsbehörden, Regierungen und politischen Entscheidungsträgern. Jess Foulds, Senior Manager Global Responsible Investment bei Aviva Investors, drückt es folgendermaßen aus: „Wie könnte aktives Engagement aussehen, wenn man dabei Einfluss auf das ganze System statt bloß auf lokaler Ebene oder auf einzelne Emittenten oder Unternehmen nehmen will?“
Entscheidend dabei ist, dass Micro und Macro Stewardship aufeinander abgestimmt werden. „Wir können das Risiko beeinflussen, indem wir die Art und Weise, wie Kapital zugeteilt wird, verändern, es aber auch insgesamt auf Marktebene reduzieren, indem wir uns mit der Politik an einen Tisch setzen“, so Foulds. Anleger in Staatsanleihen spielen ihre Einflussnahmemöglichkeiten noch gar nicht richtig aus.
Es geht aber eben auch nicht allein darum, Risiken zu mindern. Mit der zunehmenden Lenkung von Kapital in auf den Übergang in eine nachhaltigere Zukunft bezogene Themen werden auch Möglichkeiten erschlossen, Rendite zu generieren.
„Für jene, die Kapital verwalten, wird es immer wichtiger, den sich vollziehenden Wandel auf politischer Ebene zu verstehen“, so Tom Tayler, Senior Manager im Sustainable Finance Centre of Excellence von Aviva Investors.
Übergang hin zu einer nachhaltigen Markthypothese
„Die Marktkonzeption kann geändert werden. Märkte sind menschliche Konstrukte. Und Marktteilnehmer wie professionelle Investoren sind sehr wohl in der Lage, mit ihren Ansichten dazu beizutragen, die Schwachstellen im System auszumerzen,“ argumentiert Oliver Morriss.
Seiner Auffassung nach müssen wir neu interpretieren, wodurch sich ein effizienter Markt eigentlich auszeichnet, nämlich nicht bloß dadurch, dass er kaum zu übertreffen ist, sondern auch dadurch, dass er seine künftige Funktionsfähigkeit nicht durch seine heutige Funktionsweise in Gefahr bringt.
Die Politik und die Aufsicht sind als das investierbare Universum gestaltende Instanzen von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht, die Integrität des Marktes sicherzustellen. Sie können dies jedoch nicht im Alleingang bewältigen, sondern sind dabei auf fortlaufendes Feedback vonseiten der Finanzmarktteilnehmer angewiesen. Daher sollten Investoren darum bemüht sein, eng mit anderen Institutionen zusammenzuarbeiten und so ihr eigenes bilaterales Engagement bei Regierungen und Aufsichtsbehörden zu ergänzen.
Das Handeln der Anleger wirkt sich sehr wohl darauf aus, inwieweit die Märkte funktionieren
Morriss ist der Ansicht, dass die Bemühungen zur Reduzierung nicht diversifizierbarer Risiken darauf hindeuten, dass der Übergang hin zu einer nachhaltigen Markthypothese (Sustainable Market Hypothesis, SMH) eingeläutet ist. Anleger beginnen zu akzeptieren, dass sie eben nicht bloß Außenstehende, sondern ein Teil der Finanzmärkte sind. Aus diesem Grund sind viele der Risiken im Finanzsystem endogene Risiken, d. h. sie entstehen im Inneren.
„Das Handeln der Anleger wirkt sich sehr wohl darauf aus, inwieweit die Märkte funktionieren. Wenn wir akzeptieren können, dass ein gut funktionierender Markt die Grundvoraussetzung ist, um risikobereinigte Renditen generieren zu können, dann ist es höchste Zeit, die SMH als eine ernsthafte Theorie zur Sicherstellung der Marktintegrität anzunehmen und weiterzuentwickeln“, so Morriss.
Auch wenn es utopisch klingen mag: Man stelle sich einfach mal vor, was erreicht werden könnte, wenn wir einige der klügsten Köpfe dazu bewegen würden, die Herausforderung der Schaffung einer nachhaltigeren Marktstruktur anzugehen. Ein ambitionierter Gedanke, aber vielleicht lässt sich dieser metaphorische Berg – der Markt – auf diese Weise ja doch auf eine höhere Ebene versetzen.