Trotz der anhaltenden Marktvolatilität und geopolitischen Unsicherheit könnten sich 2023 für Anleiheinvestoren attraktive Chancen ergeben, so Barney Goodchild.
Dieser Artikel beschäftigt sich mit folgenden Themen:
- Was spricht für eine Verbesserung der Anleihebewertungen gegenüber früheren Jahren?
- Warum ist für 2023 eine breitere Streuung zwischen starken und schwachen Emittenten zu erwarten?
- Ansichten zur Assetallokation
2022 war ein desaströses Jahr für die Finanzmärkte. Der S&P 500 verzeichnete die schlechteste Jahresperformance seit 2008, und globale Anleihen glitten zum ersten Mal seit 70 Jahren in einen Bärenmarkt ab.
Hauptgrund für diese Entwicklungen war die unerwartet starke Inflation. Die im Februar durch den Einmarsch Russlands in die Ukraine verursachten Preisausschläge bei Energie und Lebensmitteln trafen sämtliche Volkswirtschaften schwer, allen voran die Schwellenmärkte. In Reaktion darauf läuteten die Zentralbanken den aggressivsten geldpolitischen Straffungszyklus seit Jahrzehnten ein. So summierten sich die Zinsanhebungen in den G10-Ländern 2022 auf rund 2.700 Basispunkte.
Da die Weltwirtschaft noch weitere große Herausforderungen zu bewältigen hat, sollte man es den Anlegern nachsehen, dass sie zum Jahresauftakt 2023 gegenüber Anleihen nach wie vor Vorsicht walten lassen. Die Makrorisiken bestehen fort, die Notenbanken dürften weiter an der Zinsschraube drehen, und die Inflationsgefahr ist noch nicht gebannt.
Da die Renditen jedoch steigen – in einigen Bereichen auf Spitzenwerte wie zuletzt vor zehn Jahren –, versprechen Anleihen attraktives Ertragspotenzial, das dabei helfen könnte, die Marktvolatilität abzufedern. Und dies bringt uns zu einem allgemeineren Punkt: Nach einer langen Phase niedriger Erträge infolge der globalen Finanzkrise gewinnt diese Anlageklasse endlich wieder an Wert.
Warum Anleihen?
Um das neue Umfeld zu verstehen, müssen wir einen Schritt zurückgehen und danach fragen, wie wir an diesem Punkt angelangt sind.
Traditionell gibt es für Anleger drei Gründe, in Anleihen zu investieren: die Verzinsung, die Kursgewinne und die negative Korrelation mit riskanteren Anlageklassen. Aber die Auswirkungen der globalen Finanzkrise löste bei allen drei Faktoren Verzerrungen aus.
Für Anleger gab es drei Gründe, in Anleihen zu investieren: die Verzinsung, die Kurserträge und die negative Korrelation mit riskanteren Anlageklassen
Um die Konjunktur nach der Krise wieder anzukurbeln, wurden die Leitzinsen massiv gelockert. Dies führte zu sinkenden, mitunter sogar negativen Anleiherenditen: Zur Spitzenzeit im Dezember 2020 belief sich das Volumen ausstehender Anleihen mit negativer Rendite auf sage und schreibe 18 Billionen US-Dollar.1
Infolge der sinkenden Zinsen wurden die Kursgewinne zur Hauptertragsquelle bei Anleihen, was zum Teil den verschiedenen Programmen zur quantitativen Lockerung zu verdanken war, die die Zentralbanken im Rahmen ihrer Konjunkturpakete lancierten und die die Anleihekurse in die Höhe trieben (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: In der Nachkrisen-Ära bestimmen sich die Anleiherenditen im Wesentlichen durch die Kurserträge (Prozent)
Hinweis: Rendite des Bloomberg Global Aggregate Bond Index 1990-2022.
Quelle: Aviva Investors. Stand: 30. Dezember 2022
Die Nachkrisenpolitik hatte zudem Folgen für die Korrelation zwischen Anleihen und Risikoanlagen. Eine Auswirkung des Niedrigzinsumfelds war die höhere Anfälligkeit von Anleihen gegenüber Zinsen, sodass diese wesentlich stärker auf plötzliche Zinserhöhungen reagierten als zuvor. So war die Duration von Anleihen, die diese Sensitivität abbildet, 2021 doppelt so hoch wie in den frühen 1980er Jahren.2
Nicht nur die Anleihe-, sondern auch die Aktienrenditen brachen ein, und die Korrelationen zwischen den beiden Anlageklassen wurden 2022 deutlich ausgeprägter
Am Beispiel der Ereignisse im Jahr 2022, als die Notenbanken ihre Geldpolitik im Kampf gegen die Inflation strafften, lässt sich dies eindrucksvoll belegen. Nicht nur die Anleihe-, sondern auch die Aktienrenditen brachen ein, und die Korrelationen zwischen den beiden Anlageklassen wurden deutlich ausgeprägter (siehe Abbildung 2).
Die traditionelle Portfolioallokation mit einem Aktienanteil von 60 und einem Anleiheanteil von 40 Prozent wurde damit in Frage gestellt, setzt diese doch voraus, dass Anleiherenditen in einem turbulenten Marktumfeld negativ mit Aktien korrelieren, sodass 60/40-Portfolios den Kapitalerhalt sichern und die allgemeine Volatilität ausgleichen können.
Abbildung 2: Anleihen und Aktien korrelieren 2022 deutlich stärker
Hinweis: Gleitende 12-Monats-Korrelation zwischen dem Bloomberg Global Aggregate Bond Index und dem MSCI World Global Equity Index, Monatsdaten 1994-2022.
Quelle: Aviva Investors. Stand: 30. Dezember 2022
Warum gerade jetzt?
Auch wenn das Jahr 2022 den Anleiheinvestoren als eines der bittersten Jahre überhaupt in Erinnerung bleiben wird, hat der rigide Kurs der Zentralbanken unter dem Strich doch bewirkt, dass die drei Gründe, in Anleihen zu investieren, wieder Gültigkeit haben.
Beginnen wir mit der Verzinsung. In einem Umfeld höherer Zinsen zahlen sich Anleiheinvestments endlich aus und liefern Renditen, die so hoch sind wie seit fast zehn Jahren nicht mehr (siehe Abbildung 3).
Abbildung 3: Renditen steigen in sämtlichen Kreditmärkten (Prozent)
Quelle: Aviva Investors, Bloomberg. Stand: 17. Januar 2023
Seit 2009, als die lockere Geldpolitik Anleger von Anleihen zu Aktien wechseln ließ, ist das Prinzip „TINA“ (kurz für „There Is No Alternative“, es gibt keine Alternative) an den Börsenplätzen in aller Munde. Nachdem sich Anleiherenditen inzwischen aber besser entwickeln als Dividendenrenditen (siehe Abbildung 4), könnte das Prinzip „TARA“ (kurz für „There Is A Real Alternative“, es gibt eine vernünftige Alternative) zur neuen Losung werden.
Abbildung 4: Renditen zehnjähriger US-Staatsanleihen gegenüber der Dividendenrendite des S&P 500 (Prozent)
Quelle: Aviva Investors, Bloomberg. Stand: 17. Januar 2023
Zudem besteht die Möglichkeit, dass die Korrelationen zwischen Anleihen und Aktien auf ihre historischen Niveaus zurückkehren und dass Anleihen ihre traditionelle Rolle als Ausgleich für die mit Aktien verbundene Portfoliovolatilität wieder übernehmen.
Als die Notenbanken auf einem niedrigen Renditeniveau damit begannen, die Zinsen zu erhöhen, war aufgrund der Laufzeiten dieser Anlageklasse immer klar, dass die Erträge sinken würden. Bei höheren Renditen besteht im Hinblick auf die Anleihekurse wieder ein „normales“ Risiko in beide Richtungen. Höhere Erträge dürften die Auswirkungen der Zinsanhebungen teilweise ausgleichen.
Höhere Erträge dürften die Auswirkungen der Zinsanhebungen teilweise ausgleichen
Es ist davon auszugehen, dass die Weltwirtschaft 2023 im Zuge der Wachstumsverlangsamung und aufgrund des unverändert restriktiven geldpolitischen Umfelds in eine leichte Rezession abgleitet. Je mehr Volkswirtschaften sich der Rezession nähern, desto geringer wird die Notwendigkeit einer weiteren geldpolitischen Straffung. Aus diesem Grund sind wir der Ansicht, dass bei den Zinserhöhungen der Zenit wohl bereits überschritten ist. Trotz Anzeichen nachlassender Inflation wird die künftige Politik maßgeblich davon abhängen, wie schnell die Preise sinken.
Wann genau der aktuelle Zinsstraffungszyklus enden und wie stark sich das globale Wachstum im Jahresverlauf noch verlangsamen wird, wissen wir nicht. Klar ist jedoch, dass Anleihen dank der inzwischen deutlich besseren Bewertungen mehr Sicherheit bieten, falls sich das globale Wachstum schneller verlangsamt als erwartet oder sich die hohe Inflation als hartnäckig erweist.
Abbildung 5: Benötigter Renditeanstieg zum Ausgleich der Carry-Erträge über 12 Monate (Prozent)
Quelle: Aviva Investors, Bloomberg. Stand: 17. Januar 2023
Vorsicht walten lassen
Weiter gilt es zu bedenken, dass in diesem neuen Umfeld eine breitere Streuung zwischen den verschiedenen Wertpapieren zu erwarten ist.
Wir rechnen mit höheren Spreads und einer stärkeren Streuung zwischen fundamental starken und schwächeren Emittenten
Einer der Verzerrungseffekte der quantitativen Lockerung war, dass sie für geringere Streuung zwischen den Emittenten sorgte. Da die Notenbanken inzwischen nicht mehr wahllos Staats- und Unternehmensanleihen ankaufen, gehen wir davon aus, dass die Spreads unter weltweit nachlassendem Wachstum und höheren Zinsen steigen werden, und erwarten eine breitere Streuung zwischen fundamental starken und schwächeren Emittenten. Abbildung 6 veranschaulicht den deutlichen Anstieg der Streuung zwischen Ende 2021 und Mitte Januar 2023.
Für aktive Manager, die auf eine Titelauswahl auf Basis von Fundamentaldaten setzen, waren die letzten zehn Jahre eine Herausforderung. Performancetreiber war nicht mehr die Titelauswahl nach dem Bottom-up-Prinzip, sondern die makroökonomische Entwicklung. So positiv die wieder höhere Streuung auch sein dürfte, sollten Anleger doch Vorsicht walten lassen, denn Fehler bei der Titelauswahl führen zu erhöhten Abwärtsrisiken. Das aktuelle Umfeld dürfte stärker fundamental basierte und risikobewusste Anlageentscheidungen unseres Erachtens begünstigen.
Abbildung 6: Spread-Streuung im Bloomberg Global Aggregate Index (Bp.)
Quelle: Aviva Investors, Bloomberg. Stand: 17. Januar 2023
Assetallokation bei Anleihen
Die oben erwähnten Faktoren stimmen uns zuversichtlich, dass sich festverzinsliche Anlagen überdurchschnittlich entwickeln, sobald sich Anzeichen einer Konjunkturerholung zeigen und der Markt diese angemessen einpreist. Innerhalb der verschiedenen Anlageklassen sollten jedoch bestimmte Feinheiten berücksichtigt werden.
Werfen wir zunächst einen Blick auf Staatsanleihen. Infolge der raschen Neubewertung der Zinsstraffungszyklen in den G10-Ländern sind die Renditen von Staatsanleihen aus Industrieländern so hoch wie seit 2008 nicht mehr. Die Risiken zeigen in zwei Richtungen: Sollte sich die Inflation hartnäckig halten, müssen die Notenbanken trotz der Konjunkturschwäche an ihrer restriktiven Geldpolitik festhalten. Das Upside-Szenario für Staatsanleihen ist, dass sich die Inflation entweder als vorübergehend erweist oder dass es eine harte Landung gibt, die Zinssenkungen erfordert, um eine wirtschaftliche Notlage zu verhindern.
Schwellenländeranleihen sind derzeit wohl das attraktivste Segment unter den festverzinslichen Anlageklassen, auch wenn 2023 zunächst mit Gegenwind zu rechnen ist
Staatsanleihen haben heute mehr zu bieten als noch vor einem Jahr. Allerdings erwarten wir in Zukunft breiter gestreute Gesamterträge, denn sowohl die Zentralbanken als auch die Finanzmärkte beobachten mit Argusaugen, ob die Teuerung dauerhaft hoch bleibt. Auch die Fiskalpolitik, die geplanten Emissionen und die quantitative Straffung werden im Fokus stehen.
In diesem potenziell volatilen Umfeld kann ein globaler Ansatz bei der Allokation von Staatsanleihen dazu beitragen, die Diversifizierung zu erhöhen und das Exposure gegenüber idiosynkratischen Schocks (wie etwa die Ausschläge bei den Gilt-Renditen, nachdem die britische Regierung im September 2022 den „Mini-Haushalt“ vorgestellt hatte) zu reduzieren.3
Schwellenländeranleihen sind derzeit wohl das attraktivste Segment unter den festverzinslichen Anlageklassen, auch wenn 2023 zunächst noch mit Gegenwind zu rechnen ist.
Die Renditen von Schwellenländeranleihen in Lokalwährung sind von unter sechs Prozent zum Jahresauftakt auf über sieben Prozent gestiegen. Die Spreads von Hartwährungsanleihen bewegen sich 100 Basispunkte über dem Niveau vor der Coronakrise und bieten – unter Berücksichtigung der Ausfall- und Erlösquoten – eine gute Absicherung.
Mit dem Ende der Zinserhöhungen wird der starke US-Dollar aufhören, Verluste zu verursachen. Ebenso wichtig ist, dass sich aus den starken Unterschieden in den Bewertungen und Fundamentaldaten für Relative-Value-Strategien in beiden Anlageklassen auch weiterhin zahlreiche Chancen ergeben werden.4 Da neben Hochzinsanleihen im EM-Universum auch immer mehr Investment Grade-Anleihen zu finden sind, könnte eine Allokation in Schwellenländeranleihen die Rendite und Diversifizierung von Multi-Asset-Portfolios verbessern.
Hochzinsanleihen haben infolge der jüngsten Ausweitung der Spreads an Attraktivität verloren, insbesondere mit Blick auf die unsicheren Wirtschaftsaussichten. Allerdings erscheinen Hochzinsanleihen jetzt robuster als während früherer Rezessionsphasen.5 Aktuell rechnen wir im Hochzinsbereich mit einer Spreadausweitung. Anleger dürften sich 2023 aber über bessere Gesamterträge freuen, da sich die Gesamtrendite innerhalb eines Jahres quasi verdoppelt hat. Auch die Gesamtrendite auf kurzlaufende Investment Grade-Anleihen ist relativ attraktiv, konkurriert aber mit den starken risikolosen Geldmarktrenditen.
Wir bevorzugen Long-Positionen im US-Dollar und berücksichtigen damit die Abschwächung des weltweiten Wirtschaftswachstums und die Stärke der Kerninflation in den USA. Der längerfristige Dollartrend könnte sich jedoch umkehren, wenn sich die Wachstumsaussichten im späteren Jahresverlauf verbessern.
Alles in allem könnte 2023 für Anleihen den Beginn einer neuen Ära markieren, die sich durch höhere Renditen und eine breitere Streuung der Erträge auszeichnet, als es in der Phase nach der großen Finanzkrise der Fall war. Wer die Anlagechancen nutzen will, muss Fingerspitzengefühl bei der Titelauswahl beweisen und die Fundamentaldaten genau im Blick behalten.