Bei rückläufigen Märkten sollten Aktienanleger die Aussichten für künftige Erträge optimistischer einschätzen. Sinkende Kurse können sich jedoch auf den inneren Wert eines Unternehmens auswirken. Wenn Anleger erkennen, welche Faktoren für solche Einflüsse ausschlaggebend sind, können sie von dieser Entwicklung profitieren und Bewertungsfallen vermeiden.
Dieser Artikel beschäftigt sich mit folgenden Themen:
- Warum niedrige Aktienkurse nicht immer ein guter Indikator für künftige Erträge sind
- Welche Arten von Unternehmen am ehesten von negativen – und positiven – Rückkopplungseffekten betroffen sind
- Worauf Anleger achten sollten, um diese Mechanismen zu verstehen
Fundamentalanalysen zielen darauf ab, den inneren Wert eines Unternehmens zu ermitteln. Dabei handelt es sich, vereinfacht ausgedrückt, um den gesamten Cashflow, den ein Unternehmen in Zukunft voraussichtlich generieren wird, abgezinst mit einem angemessenen Zinssatz.
Bei Value-Anlagen geht es darum, Unternehmen mit einem Abschlag auf ihren inneren Wert zu erwerben. Wenn sich die Kurse mittelfristig wieder ihrem inneren Wert annähern, gilt bei ansonsten gleichen Bedingungen: Je größer der Abschlag, desto höher der potenzielle Ertrag.
Nach Ansicht erfahrener Value-Anleger gehen niedrigere Kurse überraschenderweise auch mit einem geringeren Risiko einher. Bei einem ausreichend hohen Abschlag weisen Aktien zunehmend ein Merkmal auf, das der US-amerikanische Hedgefonds-Milliardär Seth Klarman als „Sicherheitsmarge“ bezeichnet: Die Kurse sind dann so niedrig, dass sie die Risiken kompensieren.
In Zeiten, in denen die Aktienindizes deutlich nachgeben, lässt sich diese Sicherheitsmarge bei allen Anlagestilen finden. Doch Anleger müssen die betreffenden Unternehmen analysieren, da der innere Wert nicht immer zuverlässig ist.
Das Konzept der Reflexivität
In „Die Alchemie der Finanzen“ erläuterte George Soros das Konzept der Reflexivität, demzufolge einige Vermögenswerte durch niedrigere Preise negativ beeinflusst werden und umgekehrt, während andere durch höhere Preise positiv beeinflusst werden. Zudem werden einige Vermögenswerte durch niedrigere Preise positiv beeinflusst.1 Mit anderen Worten: Aktienkurse können positive oder negative Rückkopplungseffekte erzeugen – je nachdem, ob die Kurse höher oder niedriger sind als der innere Wert.
Während die moderne Portfoliotheorie und die Wirtschaftswissenschaften zu einem Großteil von einem langfristigen Gleichgewicht ausgehen, sind nach Ansicht von Soros diese Rückkopplungseffekte für den Verlauf von Boom-und-Bust-Zyklen ausschlaggebend – jenseits der Vorstellungen der traditionellen Wirtschaftstheorie.
Die Reflexivität führt zu einer ganz anderen Sicht auf die Finanzmärkte
In einer Vortragsreihe, die 2009 in der Financial Times veröffentlicht wurde, erklärte Soros, dass seiner Meinung nach alle Menschen eine voreingenommene und verzerrte Sicht auf die Realität haben und dass, „diese verzerrten Einschätzungen die Situation, auf die sie sich beziehen, beeinflussen können, da falsche Sichtweisen zu unangemessenen Handlungen führen“.
Doch unser Handeln wird sich wiederum auf die Realität auswirken. Das ist die Reflexivität, die laut Soros in direktem Widerspruch zum Prinzip des wirtschaftswissenschaftlichen Gleichgewichts steht, das eine perfekte Kenntnis der Märkte und rationales Verhalten voraussetzt.2
Die Reflexivität führt daher zu einer ganz anderen Sicht auf die Finanzmärkte. Je nach Anlagestil, Sektor und Unternehmen weist die Reflexivität zwar Unterschiede auf. Doch insgesamt besagt das Konzept, dass sich die Marktstimmung, die sich in den aktuellen Aktienkursen widerspiegelt, auf die Realwirtschaft auswirken kann, indem sie den inneren Wert der Unternehmen beeinflusst.
Um zu verstehen, wann niedrige Kurse ein Wertpotenzial verkörpern und wann sie die Wahrscheinlichkeit eines dauerhaften Kapitalverlusts erhöhen, müssen Anleger unbedingt ermitteln, welche Vermögenswerte auf diese Weise durch negative Rückkopplungseffekte beeinflusst werden. Vereinfacht lässt sich die Idee wie in Abbildung 1 dargestellt veranschaulichen.
Abbildung 1: Theorie des Value Investing im Vergleich zu Reflexivität
Quelle: Aviva Investors, Februar 2023
Was bedeutet das für Anleger?
Bei einer genauen Analyse der möglichen Auswirkungen auf Unternehmen zeigen sich drei Bereiche, auf die sich Anleger konzentrieren sollten.
Kapitalintensität
Unternehmen, die aufgrund des hohen Investitionsbedarfs ihres Geschäftsmodells ständig auf die Kapitalmärkte angewiesen sind, reagieren anfällig auf sinkende Aktienkurse, da sie oft keinen ausreichenden Cashflow generieren, um die Wettbewerbsposition ihrer Vermögenswerte aufrechtzuerhalten.
Unternehmen mit kapitalintensiven Geschäftsmodellen generieren oft keinen ausreichenden Cashflow, um die Wettbewerbsposition ihrer Vermögenswerte aufrechtzuerhalten
Das niedrige Zinsniveau der letzten zehn Jahre war für solche Unternehmen ein Allheilmittel, da es für niedrige Kapitalkosten sorgte. Doch Sektoren wie die Schwerindustrie und die Bau- und Immobilienwirtschaft sind Risiken ausgesetzt, wenn sich das Blatt wendet. Im Immobiliensektor sind Real Estate Investment Trusts (REITs) gesetzlich zur Ausschüttung sämtlicher Gewinne verpflichtet, um ihre Steuervorteile aufrechtzuerhalten, was das Problem noch verschärfen könnte.
Auch unrentable IT- und Biotechnologieunternehmen sind gefährdet, da sie die Kapitalmärkte benötigen, um durch weiteres Wachstum eine kritische Masse zu erreichen.
Für einige Unternehmen in diesen Bereichen sind niedrige Aktienkurse unmittelbar mit höheren Kapitalkosten verbunden – und dieses Kapital benötigen sie, um am Markt zu überleben.
Preisnehmer
Niedrigere Kurse können zudem die Gewinn- und Verlustrechnung von Unternehmen wie Vermögens- und Anlageverwaltern belasten. Bei einem Rückgang der Aktien- und Anleihekurse sinken auch die Gebühren für das verwaltete Vermögen. Schlechte Nachrichten für die Aktienkurse sind auch schlechte Nachrichten für die Cashflows dieser Unternehmen – und ihren inneren Wert.
Das hat nicht zwangsläufig einen dauerhaften Kapitalverlust zur Folge, da die Kurse in Zukunft steigen können, doch an den Fundamentaldaten orientierte Value-Anleger müssen beim Extrapolieren der aktuellen Cashflows konservativ vorgehen. Denn aufgrund ihrer Abhängigkeit von den Marktkursen lassen sich die künftigen Cashflows nur schwer prognostizieren.
Aktienbasierte Vergütung
Aktienbasierte Vergütungspläne werden traditionell positiv beurteilt, da sie theoretisch die Interessen der Führungskräfte und der Aktionäre eines Unternehmens in Einklang bringen. Im Hinblick auf die Reflexivität werden sie aber meist außer Acht gelassen, da sie keinen Bezug zur operativen Widerstandsfähigkeit eines Unternehmens aufweisen.
Eine größere Anzahl an Aktien verwässert den Cashflow pro Aktie und verringert damit den inneren Wert des Vermögenswerts
Sie haben jedoch eine stark verwässernde und destruktive Wirkung. Wenn die Aktienkurse sinken, sind die Managementteams gezwungen, mehr Aktien auszugeben oder mehr Optionen zu gewähren, um den Wert der gezahlten Vergütung auf demselben Niveau zu halten wie in den Vorjahren. Eine größere Anzahl an Aktien verwässert den Cashflow pro Aktie und verringert damit den inneren Wert dieses Vermögenswerts, auch wenn die operativen Fundamentaldaten unverändert bleiben.
Die Behandlung aktienbasierter Vergütungen in der Rechnungslegung stiftet zusätzlich Verwirrung: Einige Unternehmen berücksichtigen sie in ihrer Gewinn- und Verlustrechnung und im Cashflow, andere schließen sie dagegen aufgrund ihres nicht zahlungswirksamen Charakters aus.
Kontrahentenrisiko
In Krisenzeiten suchen Anleger nach Informationen, anhand derer sie im Zuge der laufenden Entwicklung einschätzen können, wie schwerwiegend die bestehenden Risiken sind. Solange seitens der Unternehmen, Branchenverbände oder Aufsichtsbehörden keine neuen Informationen vorliegen, werden sich die Anleger stets an den Aktienkursen orientieren, um zu beurteilen, ob sich die Bedingungen verbessern oder verschlechtern. Dies gilt nicht nur für Aktionäre, sondern auch für Kunden, Lieferanten und sogar Wettbewerber.
Die Aktienkurse beeinflussen das Vertrauen – und somit auch das Verhalten – von Einlegern, wodurch ein Zyklus der Reflexivität entsteht
Die jüngsten Ereignisse im Sektor der US-Regionalbanken liefern diesbezüglich ein gutes Beispiel. Nach dem Zusammenbruch der Silicon Valley Bank gerieten die Aktienkurse ihrer regionalen Konkurrenten unter Druck. Daraufhin begannen viele Kontoinhaber, die Sicherheit ihrer eigenen Bankeinlagen anzuzweifeln.
Da sie nur begrenzte Informationen über die Einlagenströme und wohl auch nur ein begrenztes Verständnis der Kapitaladäquanzquoten, Liquiditätslinien und Finanzierungsbestimmungen hatten, zogen viele von ihnen ihre Einlagen ab, als ihr Vertrauen angesichts der fallenden Aktienkurse schwand. Die Aktienkurse haben zwar nur begrenzte Auswirkungen auf die Einlagen, beeinflussen jedoch das Vertrauen – und somit auch das Verhalten – der Kontoinhaber, wodurch ein Zyklus der Reflexivität entsteht.
Positive Reflexivität
Glücklicherweise sind nicht alle Rückkopplungseffekte negativ. Bei Unternehmen, deren innerer Wert vor den Fallstricken der Reflexivität relativ geschützt ist, kann dieser innere Wert sogar steigen, wenn andere Marktteilnehmer unter Druck geraten.
Abbildung 2: Positive Reflexivität
Quelle: Aviva Investors, Februar 2023
Unternehmen mit wenig kapitalintensiven Geschäftsmodellen, die über Preissetzungsmacht verfügen und aktienbasierte Vergütungen in geringerem Umfang einsetzen, sind langfristig im Vorteil. Reflexivität hat auch positive Auswirkungen, die in Verbindung mit niedrigen Kursen zu dem führen können, was Warren Buffet als „Fat Pitch“ bezeichnet: Unternehmen mit einem dauerhaften Wettbewerbsvorteil, die mit einem erheblichen Abschlag notieren und daher eine Sicherheitsmarge bieten.3 Um solche Titel zu identifizieren, müssen Anleger drei Bereiche beurteilen.
Wettbewerbslandschaft im Wandel
Bei niedrigen Kursen können Marktführer und etablierte Unternehmen oft ihren Marktanteil ausbauen, da es kleineren Unternehmen nicht gelingt, das notwendige Kapital zu beschaffen, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Bei niedrigen Kursen können Marktführer und etablierte Unternehmen oft ihren Marktanteil ausbauen
Die Biopharmabranche ist ein gutes Beispiel hierfür: Wenn die Risikokapitalfinanzierung versiegt, gewinnen die aktuellen Marktführer in der Auftragsforschung (wie IQVIA) und der Auftragsherstellung von Arzneimitteln (wie Lonza) Marktanteile hinzu – und dies in einer Zeit, in welcher der Gesamtmarkt möglicherweise schrumpft.
Angebots- und Nachfragedynamik
In kapitalintensiven Branchen haben steigende Kapitalkosten auch den Effekt, dass sich das neue Angebot an Waren am Markt reduziert.
Dies zeigt sich bei Lager- und Logistikimmobilien: Die langfristige Nachfrage fällt deutlich höher aus als das Angebot, was derzeit durch die geringere Zahl an neuen Bauprojekten und die besonders angespannte Lage an den Mietmärkten verschärft wird und den Anbietern hohe operative Cashflows beschert. Prologis, das weltweit führende Lager- und Logistikunternehmen, verfügt zudem über eine der solidesten Bilanzen (mit einem erheblichen Kostenvorteil) und befindet sich damit trotz der sich verändernden Marktbedingungen in einer starken Position.
Aktienrückkäufe
In direktem Gegensatz zu Unternehmen mit aktienbasierter Vergütung können Managementteams, die sich durch eine geschickte Kapitalallokation auszeichnen, den Cashflow pro Aktie steigern, indem sie bei niedrigen Kursen Aktien zurückkaufen. Die Rückkäufe lassen sich entweder aus dem vorhandenen Cashflow oder durch den Verkauf weniger produktiver Vermögenswerte oder Geschäftsbereiche finanzieren.
Managementteams, die sich durch eine geschickte Kapitalallokation auszeichnen, können den Cashflow pro Aktie steigern, indem sie bei niedrigen Kursen Aktien zurückkaufen
In beiden Fällen werden Barmittel einer Verwendung mit einer höheren Rendite zugeführt, die sich aus dem gegenwärtigen Kursniveau der Aktien ergibt. Wenn beispielsweise ein Unternehmen mit seinen Vermögenswerten eine Rendite von 10 Prozent erwirtschaftet und seine Aktien mit einem Abschlag von 50 Prozent auf den Wert seines Vermögens gehandelt werden, dann ergibt sich aus dem Aktienkurs eine Rendite von 20 Prozent auf diese Vermögenswerte. Durch den Rückkauf von Aktien erzielt das Unternehmen eine Rendite von 20 Prozent, während es durch eine Investition in seine Produktionskapazität nur 10 Prozent erwirtschaften würde.
Da die Zahl der im Umlauf befindlichen Aktien sinkt, steigt zudem der Cashflow pro Aktie. Dank der positiven Reflexivität erhöht sich die Rendite pro Aktie (und der innere Wert) des Unternehmens, obwohl die zugrunde liegenden Vermögenswerte die gleiche Rendite erwirtschaften.
Der führende Halbleiterhersteller Texas Instruments verkörpert die langfristigen Vorteile dieses Ansatzes möglicherweise am besten. Dank seiner disziplinierten Kapitalallokationsstrategie konnte das Unternehmen das Wachstum seines freien Cashflows pro Aktie seit 2004 vom Dreifachen auf das Siebenfache steigern.4
Bei einem niedrigen Kursniveau lohnt es sich, das Verhältnis zwischen Aktienkurs und innerem Wert zu betrachten und zu ermitteln, in welchen Fällen möglicherweise eine negative oder positive Reflexivität vorliegt, da sowohl die Risiken als auch die potenziellen Erträge hoch sind.
Aus der größeren Sicherheitsmarge ergibt sich ein hohes Ertragspotenzial, die Möglichkeit einer negativen Reflexivität birgt jedoch hohe Risiken. Am besten ist es, nach Unternehmen Ausschau zu halten, die eine positive Reflexivität aufweisen, d. h. bei denen niedrigere Aktienkurse zu einem höheren und robusteren inneren Wert führen.