James Vokins und Chris Higham erläutern, warum Investment-Grade-Anleihen trotz der weiter bestehenden Marktunsicherheit immer noch Wertpotenzial bieten.
Dieser Artikel beschäftigt sich mit folgenden Themen:
- Wo stehen wir im aktuellen Konjunkturzyklus?
- Welche Faktoren lassen Credit Spreads enger werden?
- Warum bieten Investment-Grade-Unternehmensanleihen weiterhin Chancen?
Manchmal zahlt es sich aus, gängige Ansichten zu hinterfragen. Wie wir in unserem Ausblick vom Januar erläuterten, erwarteten wir im Gegensatz zum Marktkonsens, dass die Inflation sich hartnäckig halten wird, und rechneten mit weiteren Zinserhöhungen in diesem Jahr.1 Einige Monate später kamen die Märkte zu demselben Schluss.
Wie in unserem House View für das dritte Quartal ausgeführt, hat sich die Weltwirtschaft stärker gezeigt als erwartet, trotz der Angebotsschocks, die zum Anstieg der Inflation beigetragen haben.2 Das Wachstum beschleunigte sich in der ersten Jahreshälfte. Sinkende Energiepreise führten zu einem Rückgang der Gesamtinflation, trotz der dynamischen Entwicklung im Dienstleistungssektor, der von der aufgestauten Nachfrage profitierte. Gleichzeitig sorgte die angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt für steigende Löhne und Einkommen.
Der Konjunkturzyklus befindet sich derzeit in seiner späten Phase, in der das Wachstum sich verlangsamt, aber positiv bleibt und die hohe Inflation und die angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt zu höheren Zinsen führen. Diese spätzyklischen Phasen enden, wenn die Wirtschaftsleistung schrumpft und die Volkswirtschaften in eine Rezession abgleiten. Bislang haben sich die Volkswirtschaften als resilient erwiesen, was den Zyklus weiter verlängert.
Mittelfristig sehen wir nur geringe Wachstumsrisiken. Die führenden Zentralbanken der Industrieländer haben den Kampf gegen die Inflation noch nicht gewonnen und diese unter Kontrolle gebracht. Um den Lohn- und Inflationsdruck zu dämpfen, bedarf es einer höheren Arbeitslosigkeit sowie eines unter dem Trend liegenden Wirtschaftswachstums. Dies legt nahe, dass die Zinsen sich über längere Zeit auf einem höheren Niveau bewegen werden.
Ausblick für Investment-Grade-Anlagen
Was bedeutet dies für Investment-Grade-Unternehmensanleihen? Angesichts der ordentlichen Unternehmensgewinne und der Tatsache, dass Ausfälle in der Anlageklasse der Investment-Grade-Papiere relativ selten sind, erscheint das Renditeplus von Investment-Grade-Anleihen gegenüber Staatsanleihen mit 5,3 Prozent gegenüber 3,2 Prozent angemessen.3 Nach Angaben der Rating-Agentur Moody‘s lagen die Ausfälle bei IG-Anleihen für den 12-Monats-Zeitraum bis Ende Juli 2023 bei 0,1 Prozent weltweit bzw. 0,3 Prozent in den USA.4
Während die angespannte Finanzlage – ausgelöst durch stark steigende Zinsen und Wachstumsängste – zu einem deutlichen Rückgang der Neuemissionen und Refinanzierungen im Hochzinsbereich geführt hat, sieht es bei den Investment-Grade-Anleihen vergleichsweise gut aus. Das Angebot von auf US-Dollar lautenden Unternehmensanleihen von Emittenten außerhalb des Finanzsektors liegt derzeit annähernd auf den höchsten Niveau, das außerhalb von Coronajahren verzeichnet wurde (bei rund 450 Mrd. USD zum 30. Juni 2023).5
Auch wenn sich die Situation in den Jahren 2024 und 2025 ändern könnte, wenn die Refinanzierung fällig werdender Anleihen bei einer gleichzeitigen Rezession problematisch werden könnte, sind Investment-Grade-Papiere angesichts der aktuellen Bewertungen, der Anfangsrenditen und der Ausfalldynamik aus unserer Sicht weiterhin das attraktivste Segment im Festzinsbereich.
Bewertung von Unternehmensanleihen: ein schwieriges Geschäft
Die Anleihenmärkte erleben gerade ungewöhnliche Zeiten. Während Staaten mehr Kredite aufnehmen und mehr Zinsen für ihre Schulden zahlen müssen, verkaufen die führenden Zentralbanken im Rahmen der laufenden quantitativen Straffung Anleihen.
Das aktuelle makroökonomische Umfeld ist von Unsicherheit geprägt, hauptsächlich in puncto Inflation
Das aktuelle makroökonomische Umfeld ist von Unsicherheit geprägt, hauptsächlich in puncto Inflation. Dies wirft folgende Frage auf: Werden die Zentralbanken in der Lage sein, das richtige Zinsniveau zu finden, um den Preisauftrieb unter Kontrolle zu bringen, ohne die Wirtschaft in eine Rezession zu stürzen? Es ist schwer abzuschätzen, auf welchem Niveau die Zinssätze ihren Höhepunkt erreichen könnten und wo sich die Renditen von Staatsanleihen wiederum einpendeln werden.
Letzteres ist für die Bewertungen maßgeblich, da Unternehmensanleihen auf der Grundlage äquivalenter Renditen auf Staatsanleihen zuzüglich eines Aufschlags für das Kreditrisiko (Credit Spread) bewertet werden.
In der Vergangenheit bestand eine negative Korrelation zwischen Credit Spreads und Renditen von Staatsanleihen. In der Theorie sorgt höheres Wirtschaftswachstum für steigende Unternehmensgewinne und lockt Investoren weg von der relativen Sicherheit von Staatsanleihen, was wiederum zu höheren Staatsanleiherenditen und engeren Credit Spreads führt – und umgekehrt. Im Jahr 2022, als Staatsanleiherenditen und Credit Spreads sich in dieselbe Richtung bewegten, war dieser Gleichlauf ausgehebelt; seitdem folgt die Entwicklung jedoch wieder dem traditionellen Muster (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Inverser Zusammenhang: Renditen von US-Staatsanleihen und Investment-Grade-Unternehmensanleihen (Korrelation)
Aus der bisherigen Wertentwicklung kann nicht verlässlich auf die zukünftige Entwicklung geschlossen werden.
Hinweis: Rollierende 100-Tage-Renditekorrelation, generische 10-jährige US-Staatsanleihen gegenüber Bloomberg Global Aggregate Corporate Index.
Quelle: Aviva Investors, Bloomberg. Stand: 11. Juli 2023.
Angesichts des erheblichen Anstiegs der Staatsanleiherenditen in den letzten zwölf Monaten machen die Credit Spreads derzeit einen kleineren Prozentsatz der Gesamtrendite einer Unternehmensanleihe aus. Zur Veranschaulichung: In den zwölf Monaten bis zum Ende des zweiten Quartals 2023 weiteten sich die Renditen auf US-Staatsanleihen um rund 120 Basispunkte aus (von 3,1 Prozent auf 4,3 Prozent). Die Ausweitung der Renditen auf Investment-Grade-Unternehmensanleihen belief sich im selben Zeitraum auf 80 Basispunkte (von 4,7 Prozent auf 5,5 Prozent); dies bedeutet, dass sich der Credit Spread von 160 Basispunkten auf 120 Basispunkte verengt hat. Infolgedessen macht der Credit Spread nun nur rund 20 Prozent der Gesamtrendite einer IG-Unternehmensanleihe aus, verglichen mit rund 35 Prozent vor zwölf Monaten.6
Die Spreads haben sich auf den Märkten für Unternehmensanleihen sowohl im Investment-Grade- als auch im Hochzinsbereich in den letzten Monaten verengt
Die Erwartung, dass eine Rezession abgewendet werden kann, hat zu einem Kursanstieg bei Unternehmensanleihen geführt, insbesondere im Hochzinssegment, wo die derzeitigen Renditen als ausreichende Risikokompensation angesehen werden. Somit haben sich die Spreads auf den Märkten für Unternehmensanleihen sowohl im Investment-Grade- als auch im Hochzinsbereich in den letzten Monaten verengt. Dies wirft jedoch die Frage auf, ob sie Anlegern eine vollständige Kompensation für zukünftige Risiken bieten.
Vor dem Hintergrund des Risikos einer überzogenen Zinsstraffung durch die Zentralbanken und der Wahrscheinlichkeit, dass wir uns in der Spätphase des Konjunkturzyklus mit erhöhten Rezessionsrisiken befinden, könnten Unternehmensanleihen als teuer angesehen werden.
Mehrere Faktoren sprechen jedoch dafür, dass die Bewertungen weiter angemessen sind. Dazu zählen u. a. die aktuell soliden Unternehmensgewinne, Liquiditätsreserven und Zinsdeckung. Der Zinsdeckungsgrad für US-Unternehmen außerhalb des Finanzsektors belief sich Ende Juni auf 16,2 und lag damit über dem langfristigen Durchschnitt seit 2006 von 14,9.7
Gestützt wurden die Kreditmärkte zudem durch gegenläufige technische Faktoren: das Investment-Grade-Segment durch die starke Nachfrage, abzulesen an den kontinuierlichen Zuflüssen in den Markt (siehe Abbildung 2), und das Hochzinssegment durch fehlende neue Emissionen. Angesichts der ungewissen makroökonomischen Lage ist ein selektives Vorgehen der Anleger unerlässlich.
Abbildung 2: Solide Mittelzuflüsse in Investment-Grade-Papiere in Europa und den USA (in Mrd. SD)
Hinweis: Bloomberg Intelligence, Informationen zu Mittelflüssen.
Quelle: Aviva Investors, Bloomberg. Stand: 30. Juni 2023.
Attraktive Chancen bei Investment-Grade-Anleihen
Investment-Grade-Unternehmensanleihen sind ein guter Ersatz für Staatsanleihen. Bei steigenden Zinsen steigen auch ihre Renditen, doch können sie aufgrund ihres etwas höheren Risikos einen höheren Ertrag und eine höhere Gesamtrendite als Staatsanleihen bieten.
Die Renditen von Unternehmensanleihen mit Investment-Grade sind parallel zu dem deutlichen Renditeanstieg bei Staatsanleihen ebenfalls gestiegen.
Die Renditen von Unternehmensanleihen mit Investment-Grade sind parallel zu dem deutlichen Renditeanstieg bei Staatsanleihen ebenfalls gestiegen. Die durchschnittlichen Kurse für diese Anleihen befinden sich nun auf dem niedrigsten Niveau seit der globalen Finanzkrise, und die höheren Anfangsrenditen dürften Stress im Markt abfedern. Daher sind Investment-Grade-Papiere unserer Ansicht nach attraktiv bewertet.
Die Renditen in diesem Marktsegment liegen bei knapp über fünf Prozent, was dem 2,5-fachen der Dividendenrendite globaler Aktien entspricht.8 In den letzten etwa zehn Jahren, in denen die Zinssätze extrem niedrig waren, waren derartige Renditen den Hochzins- oder Schwellenländeranleihen vorbehalten.
Zudem gilt es, die Anomalie in Bezug auf das Renditeverhältnis von Hochzinsanleihen zu Investment-Grade-Papieren zu berücksichtigen, das in den letzten Monaten auf ein Niveau gesunken ist, dass wir seit der globalen Finanzkrise nicht mehr gesehen haben. Mit einem Wert von etwas mehr als 1,5 zum 11. Juli 2023 liegt die Kennziffer unter der historischen Spanne des 2-fachen bis 3-fachen (siehe Abbildung 3).
Abbildung 3: Einbruch des Renditeverhältnisses: High-Yield gegenüber Investment-Grade
Aus der bisherigen Wertentwicklung kann nicht verlässlich auf die zukünftige Entwicklung geschlossen werden.
Hinweis: Verhältnis zeigt Yield-to-Worst des Bloomberg Global High Yield Corporate Index und des Global Aggregate Corporate Index.
Quelle: Aviva Investors, Bloomberg. Stand: 11. Juli 2023.
Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass sich die Renditen auf globale Hochzinsanleihen in den letzten Monaten kaum verändert haben und seit Februar 2023 trotz des makroökonomischen Ausblicks weiterhin bei 8,5 bis 9 Prozent liegen.8 Doch in einer Rezession oder sogar in einem Konjunkturabschwung wird eine Reihe von HY-Emittenten wahrscheinlich ausfallen, was diese Renditen schmälert. Angesichts der von Moody‘s für den Sektor im nächsten Jahr erwarteten globalen Ausfallraten zwischen 4,3 Prozent (Basisszenario der Ratingagentur) und 9,9 Prozent (ihre „moderat pessimistische“ Prognose) erscheinen Renditen von etwa 9 Prozent weniger attraktiv.10
Von verschiedenen Faktoren begünstigt
Der Investment-Grade-Markt ist über Branchen und Regionen hinweg gut diversifiziert. Änderungen des Zinsniveaus haben jedoch Schwachstellen offenbart. Es gibt jetzt eine größere Streuung im Branchen- und Einzeltitelvergleich – einige werden ungerecht behandelt, weil sie mit einer schwächeren Bonität in derselben Branche in Verbindung gebracht werden. So haben beispielsweise strukturelle Bedenken in Bezug auf den Teilsektor Büroimmobilien Auswirkungen auf andere Immobilienwerte. Im derzeitigen Umfeld könnten sich jedoch Anlagechancen bei diesen Anleihen bieten, nicht nur wegen der höheren Renditen, sondern auch wegen der Streuung, die im Rahmen einer aktiven Strategie genutzt werden kann.
Die längere Duration an den Investment-Grade-Märkten bedeutet, dass Investoren bis zur Fälligkeit der Anleihen voraussichtlich weiterhin mit dem aktuellen Renditeniveau rechnen können.
Manche Anleger sind der Ansicht, dass kurzfristige Geldmarktanlagen – risikofrei und mit gleicher oder höherer Rendite als Investment-Grade-Unternehmensanleihen – ein besseres Wertpotenzial bieten. Dabei wird jedoch ein mögliches Rezessionsszenario sowie die Tatsache außer Acht gelassen, dass Anlagen in kurzfristige Zinsen – wie der Name schon sagt – kurzfristiger Natur und mit Wiederanlagerisiken verbunden sind. Die längere Duration an den Investment-Grade-Märkten mit ihren geringen Ausfällen bedeutet hingegen, dass Investoren bis zur Fälligkeit der Anleihen voraussichtlich weiterhin mit dem aktuellen Renditeniveau rechnen können.
Aus diesen Gründen sind wir der Ansicht, dass Investment-Grade-Unternehmensanleihen auf risikobereinigter Basis relativ betrachtet attraktiver sind und eine höhere Gesamtrendite liefern können als Geldmarktanlagen. Außerdem dürfte die Zinsvolatilität bei einem gedrosselten Tempo der Zinserhöhungen zurückgehen, was sich wiederum positiv auf die Credit Spreads dieser Anleihen auswirken würde. Unserer Ansicht nach dürfte das hohe Ertragsniveau für Anleger bis zum Ende des Zyklus genug Puffer für die Volatilität bieten.
Vor dem Hintergrund solider Fundamentaldaten der Unternehmen, starker technischer Faktoren und attraktiver Bewertungen lohnt es sich, Investment-Grade-Unternehmensanleihen genauer unter die Lupe zu nehmen.